Pflegefamilien leben das Abenteuer Erziehung besonders intensiv/Besondere Rolle für Pflegeväter/Neue Erkenntnisse über sich selbst

Münster (cpm). An die erste Begegnung vor 13 Jahren erinnert sich Michael Kalin gut. Zweieinhalb war der Junge, der ihm und seiner Frau in Bereitschaftspflege übergeben war. Nach zwei Stunden waren „Wohnzimmer und Garten zerlegt“. Ein Wirbeldsturm, der auch ein „Sonnenschein sein kann“, sagt Kalin. Als er nach einem Jahr dauerhaft in eine Pflegefamilie wechseln sollte, mochten sie ihn nicht mehr abgeben. Mit drei eigenen Kindern, etlichen Bereitschaftspflegen und aktuell zwei Pflegekindern leben die Kalins in Münster das Abenteuer Erziehung besonders intensiv.

Einfacher ist es im Laufe der Jahre nicht geworden. Vor Kurzem kappte Familie Kalin den Strom für eine Woche und lebte abends im Schein der Campinglaterne. Damit war auch der Computer lahmgelegt und das Leben für den 15-Jährigen langweilig genug, um sich wieder für den Schulbesuch entscheiden zu können.

Immer neue kreative Ideen zu entwickeln, sich selbst und das eigene Verhalten in Frage stellen zu können, als Team in der Partnerschaft die täglich neuen Herausforderungen zu meistern, die die besonderen Vorgeschichten der Pflegekinder bieten, sind einige der Grundvoraussetzungen für Pflegeeltern. Aber dann kostet es nicht nur Kraft, sondern ist eine große Bereicherung für die eigene Entwicklung und eben auch für die Partnerschaft.

Das bestätigen Dominic Fröhle, Gu Dankbar und Josef Gsödl in der Runde mit Benno Schweizer, der in der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz „Westfälische Pflegefamilien“ begleitet. Das sind die Paare, die sich der Kinder mit „besonders herausforderndem Verhalten“ annehmen, wie es sozialarbeiterisch korrekt heißt. Deswegen muss auch zumindest einer der Elternteile entweder eine pädagogische Qualifikation mitbringen oder zumindest eine besondere Eignung durch die Erziehung eigener Kinder. Wobei dieses von gängiger Norm abweichende Verhalten nicht selten auf das Fetale Alkoholsyndrom (FASD) zurückzuführen ist. Was nicht immer bei der Aufnahme des Pflegekindes bekannt ist. Gu Dankbar hat wie auch Dominic Fröhle Haushalt und Kinderbetreuung übernommen, ihre Frauen sind weiter berufstätig. Aber nicht nur deswegen schreibt Benno Schweizer den Pflegevätern eine wichtige Rolle zu: „Sie bieten eine eigene Form der Bindung an und bringen eigene Ideen ein“. Pflegefamilie, zumal bei schwierigeren Kindern, gelinge in einer guten Beziehung als Team. Als Pflegevater brauche man nicht nur starke Nerven, sondern müsse auch eigene Gefühle zulassen können und offen sein für ungewöhnliche Wege.

Dominic Fröhle und seine Frau haben sich bewusst dafür entschieden, zunächst kein eigenes Kind zu bekommen, sondern vor einem halben Jahr ihren jetzt dreijährigen Pflegesohn aufzunehmen. In der ersten Zeit hätten sich seine Frau und er jeden Abend zwei Stunden über den Tag ausgetauscht. Er habe das Gefühl, Familie intensiver zu erleben als befreundete Paare. Dabei ist er wie alle Pflegeväter in der Runde dankbar für die intensive Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz.

Hilfreich seien zudem die Austauschrunden, die regelmäßig organisiert würden. So individuell die Kinder und ihr Verhalten sind, so lassen sich dabei doch Ideen für die eigene Familie gewinnen. Josef Gsödl, deren Pflegesohn ebenfalls Symptome von FASD zeigt, hat gelernt, dass sich mit Humor heikle Situationen entspannen lassen. Als größte Herausforderung sieht er für sich als Pflegevater, „die Scheuklappen aufzumachen.“ Er müsse den Blick möglichst weit öffnen.

Alle vier Pflegeväter sind sich einig, dass Beziehung der Schlüssel ist. „Das gesprochene Wort hat weniger Bedeutung“, ist Michael Kalin bewusst. Auch Sanktionen würden nicht helfen. Die
Kinder annehmen wie sie sind, die guten Seiten zu sehen und ihnen zu zeigen, dass „ich Dich schätze und liebe als Person“, helfe weiter, ist Gu Dankbars Erfahrung.

Wobei das im stressigen Alltag natürlich nicht immer gelingen kann. Dankbar hat dabei an sich eine Seite entdeckt, die er nicht kannte, seine Ungeduld. Aber dann nimmt er sich zurück, überlässt das Feld seiner Frau. Dass es auch Auszeiten braucht, haben Josef Gsödl und seine Frau gelernt. Konsequent fahren sie einmal im Jahr als Paar für drei Tage allein weg.

Allen ist bewusst, dass die Zeit als Pflegeeltern offiziell begrenzt ist. Aber nicht nur für Gu Dankbar gilt: „Als wir uns für die Jungs entschieden haben, war klar, das sind und bleiben unsere Kinder. Auch wenn wir nicht die leiblichen Eltern sind.“


Westfälische Pflegefamilien

Die Westfälischen Pflegefamilien sind als langfristiges Angebot angelegt, um Kindern mit traumatischen Erfahrungen oder Behinderungen dauerhaft den festen Rahmen des Familienlebens zu ermöglichen. Interessierte Paare werden gründlich vorbereitet und begleitet. Bei Bedarf können sie jederzeit Hilfe durch Fachmitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe erhalten. Derzeit
betreuen Benno Schweizer und sein Team in der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz rund 40 Westfälische Pflegefamilien. Bedarf gäbe es für viele mehr. Interessenten können sich per Mail
an schweizer@st-mauritz.de oder per Telefon an 0251-13304-13 an ihn wenden.